Demokratie, so Armin Nassehi*, hat den Anspruch ein Repräsentations- und ein Entscheidungsproblem zu lösen. Beide Funktionen sind aktuell gestört. Immer mehr Menschen fühlen sich nicht mehr gehört und verstanden von „denen da oben“. Immer häufiger werden Entscheidungen getroffen (oder auch nicht), ohne dass die damit verbundenen Erwartungen erfüllt werden. Demokratie „liefert“ nicht mehr, und damit ist der Tausch Loyalität gegen Problemlösung aufgehoben.
Störungen haben Vorrang.
Und das bedeutet: Anstatt immer lauter, schneller und vereinfachend irgendwas zu versprechen, und die oben genannte Dysfunktionalität damit immer und immer wieder anzukurbeln, heißt es jetzt, neue Repräsentationsformen auszuprobieren, die vielleicht sogar bessere, aber auf alle Fälle legitime und legitimiertere Entscheidungen produzieren, als das aktuell der Fall ist. Es geht aktuell darum, aus der Dichotomie „entweder ich oder Du“ ein „durch Mich ein Wir“ zu leben.
Welche Rolle können wir als Mitarbeitende, Beratende, Führende in Unternehmen hier spielen?
Grundlage sind wir selbst. Was trage ich zum Erfolg meines Teams, meines Bereichs, meines Unternehmens bei? Wie gehe ich mit Verletzungen demokratischer und kooperativer Grundwerte um – wegschauen, zurückhauen oder konstruktiv klären? Hier braucht es alltägliches Engagement, Aufmerksamkeit und Mut von uns allen, an allen unseren Arbeitsplätzen.
Besondere Verantwortung haben dabei diejenigen, die qua Rolle die unterschiedlichen Ebenen der Macht darstellen: Egal ob operative Führungskraft oder C-Level. Hier kommt zum Erstgenannten die Vorbildfunktion. Egal, ob ich nach House & Mitchell** direktiv, unterstützend, partizipativ oder leistungsfordernd führe – respektiere ich meine Gegenüber? Oder verwechsle ich die Macht, die ich qua Position habe, mit dem Recht, dem anderen die Stimme zu verbieten? Führungskräfte werden in Unternehmen vor allem dafür gebraucht, Ausrichtung und Zugehörigkeit zu orchestrieren. Obwohl die allermeisten Unternehmen nicht demokratisch verfasst sind, kann man auch in ihnen basierend auf demokratischen Werten führen, was nichts anderes bedeutet als:
zu schaffen. Wenn die CEOs von Siemens, Mercedes-Benz und Deutscher Bank für die Demokratie einstehen, dann ist das ein klarer Leuchtturm für viele hunderttausend Beschäftigte in der Welt. Wenn ihnen das alle Inhaber von Handwerksbetrieben in Deutschland nachmachten, wäre die Beschäftigtenzahl laut Statistischem Bundesamt 2024 übrigens 5,4 Millionen!
Ähnlich relevant wie die Führungsrollen sind alle unternehmerischen Funktionen, die im Unternehmen nur deshalb existieren, weil Kooperationszusammenhänge ab einer bestimmten Größe Prozesse, Strukturen und Institutionen brauchen, welche die oben genannten Inhaber von kleinen Handwerksbetrieben mitmachen: Kommunikation, Business Excellence, Compliance, Organisation & Personal und die betriebliche Interessenvertretung fallen einem direkt ein, mitsamt der an ihnen hängenden Dienstleister.
Beispielhaft: Es macht einen enormen Unterschied für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, dass Unternehmen sich in einseitigen Anzeigen für #zusammenland aussprechen. Jede Lean Management Praxis im Unternehmen schafft (sofern es ernst gemeint ist) mit der konsequenten Eigenverantwortlichkeit und Mitgestaltung aller am Prozess Beteiligten eine Grundlage für demokratisch fundierte Kooperation. Compliance kann man als „sich an die Regeln halten müssen“ interpretieren oder an die Regeln halten wollen. Organisationsentwicklung kann ich mir von außen einkaufen (à propos: kann ich nicht) oder dem Unternehmen zum Beispiel mit den Liberating Structures selbst zumuten und zutrauen. Personalabteilungen schaffen Angebote, um die Zusammenarbeit im Betrieb zu stärken – ideal für ein gleichzeitiges Demokratie-Upskilling. Jede betriebliche Mitbestimmung ist demokratieförderlich, umso ernster sollten die über das Betriebsverfassungsgesetz legitimierten Gremien sich dieser Aufgabe stellen: Demokratie schützen, Grundwerte stärken.
Demokratie-Weiterentwicklung durch Unternehmen hat viele Facetten.
Aber viel wichtiger noch: Grundbedingung für unsere Demokratie heute und morgen ist ein Miteinander. Hinterfragen, nachfragen, zuhören, Perspektiven wechseln. Auch wenn wir uns nicht einig sind. Raus aus unseren Blasen, egal ob auf social media oder in der wirklichen Welt. Raus aus unseren Komfortzonen, egal ob in Form des Home Office oder in Gestalt unseres Expertentums.
Leute, es wird anstrengend. Aber das ist so, wenn sich soziale Formen verändern.
* Armin Nassehi: Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede (2023)
** R.J. House & R.R. Mitchell: Path-Goal Theory of Leadership in Journal of Contemporary Business (1974)