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Es gibt Hunger in Kiew, Lusaka und Berlin

Gabriele Wittendorfer

Das zweite sozioLOGISCHe Barcamp hat sich mit dem SDG 2 „Kein Hunger“ beschäftigt. Die Zahl der humanitären Krisen nimmt nicht ab. Jeder Krieg produziert Hunger, auch unsere Art und Weise der Ernährung, der Nahrungsmittelproduktion und -verteilung tut das. Wer Hunger hat, braucht kurzfristig Nahrung. Er oder sie brauchen langfristig aber viel mehr: Ausreichend materielle und soziale Ressourcen, um für sich selbst sorgen zu können. Ernährung ist Existenzgrundlage und Teilhabemechanismus in allen Gesellschaften.

Stichwort „Nutrition Transition“. Das Phänomen, dass es in Entwicklungsländern in urbanen Regionen teilweise mehr übergewichtige als untergewichtige Frauen gibt, irritiert auf den ersten Blick.  Auf den zweiten Blick nicht: Das, was Menschen in Städten an Nahrungsmitteln kaufen können, wird global von wenigen Konzernen produziert und angeboten. Diese Konzerne „unterliegen“ einer Wachstumslogik (ja, auch da rauszukommen ist nicht trivial), die in den entwickelten Ländern zu Wohlstand und enormem Überfluss geführt hat. In den Entwicklungs- und Schwellenländern hat diese Wachstumslogik den meisten lokalen Akteur*innen, die von der Herstellung bzw. dem Handel mit Nahrungsmitteln gelebt haben, ihre Existenz genommen. Auch deshalb mussten sie die ländlichen Gebiete verlassen und haben sich in den Ballungsräumen niedergelassen. Dort kaufen sie nun ihre Nahrung ein anstatt sie selbst zu produzieren und passen sich an die Essgewohnheiten dieser neuen Umgebung mit ihrem globalen Ernährungsstil an.

Dieser sozioLOGISCHe Aspekt der Ernährung macht sich auch bei uns bemerkbar: Ein moderner „Lifestyle“ zeichnet sich dadurch, dass wir immer weniger Rohstoffe selbst verarbeiten und Essen immer häufiger eine Nebenfunktionalität in unseren vollen Terminkalendern bekommt. „Coffee to go“ und „Foodbox in der Hand“ zeigen: Du bist unterwegs, Du bist gefragt, Du bist agil – und kannst es Dir auch leisten. Natürlich kaufe ich meine Stulle am Bahnhof beim prominent platzierten Biobäcker. Menschen mit wenig Einkommen tun dasselbe im Untergeschoss beim 1-Euro-Backshop. Dabei ist mein belegtes Vollkornbrot durchaus nährstoffreich. Das mit Käse überbackene Hefestück ist einfach nur fett, zuckerhaltig und billig. Menschen ohne Einkommen bekommen im Bahnhof nur etwas zu essen, wenn wir ihnen den „Hast De mal nen Euro“ schenken. Mit Norbert Elias‘ Prozess der Zivilisation weitergedacht, sind vegane Bistroküchen und faire Coffeeshops also keine Lösung für alle, sondern drehen die Ausschluss- und Marginalisierungs-Daumenschrauben nur noch eine Umdrehung weiter.

Was wäre mit der folgenden disruptiven Idee: Beim gerade laufenden Umbau des Frankfurter Hauptbahnhofs wird gut platziert ein Food-Corner der besonderen Art eingerichtet. Es handelt sich um einen Laden der „Tafel“ plus einer rudimentär ausgestatteten, modernen Mensa, bei der Mahlzeiten aus biologischem, lokalen Anbau gekocht werden. Jede Portion kostet 5 Euro; als Getränke gibt es nur Wasser aus der Leitung. Alle zahlenden Gäste bezahlen 10 Euro, was dann wieder bedeutet, dass die nächste Person mit Frankfurt Ausweis ihr Essen bekommt ohne dafür etwas bezahlen zu müssen. Wer weder mit Frankfurt Ausweis noch mit Geld bezahlen kann, muss für seine Portion einen anderen Beitrag zum Betrieb leisten, z.B. Tische abräumen und abwischen oder den anderen eine schöne Geschichte erzählen.  Alle Gäste dieser Mensa werden platziert, damit beim Essen Menschen ins Gespräch kommen, die sonst nie miteinander reden. Dieses Non-profit-Unternehmen ist ein Sozialbetrieb. Die monatliche Miete für den Raum wird aus dem Frankfurter Stadtbudget bezahlt.

Hilke, Barbara und Thomas, Cordelia und Zailang, Andrea, James, Meike und Astrid – habe ich alle Aspekte unseres sozioLOGISCHen Austausches in dieser Idee weitergedacht?

Unser monatlicher Austausch zur #sozioLOGIK hinter der Agenda 2030 der Vereinten Nationen vereinfacht nicht, sondern beleuchtet Zusammenhänge dieser Transformation: Je mehr soziologische Argumente neben ökonomischen, bürokratischen und psychologischen in dieser Welt sind, umso weniger notwendig sind Aktionen, bei denen Menschen ihre Handflächen gegen Lebensmittelverschwendung und für eine Agrarwende mit Sekundenkleber auf Autobahnen kleben.

#sozioLOGIK heißt Gesellschaft weiterdenken. Wer dabei sein möchte, gerne melden.

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